| Schreib-Waisen Die
Rechtschreibreform 1998 und ihre Folgen – eine Bestandsaufnahme
fünf Jahre nach Einführung der neuen deutschen
Rechtschreibregeln. Wie haben die neuen Regelungen die
Schreibenden beeinflusst und haben sich diese mit dem Diktat der neuen
Regeln arrangiert?
Kleiner Rückblick
Bereits
1901 gab es einen ersten großen Reformbeschluss, der die deutsche
Schriftsprache vereinheitlichte: Zu diesem Zeitpunkt wurde z. B. das
„th“ in vielen Wörtern von einem einfachen
„t“ abgelöst
(Thaten, Thaler, Thor). Auch die Ersetzung des „c“ durch
das „k“ oder „z“, vor allem bei (ehemaligen)
Fremdwörtern, verdanken wir dieser
Reform (Commerz, Caffee, Porcellan). Auch 1955 und 1958 gab es in
Westdeutschland Bemühungen, die Schreibweisen weiter zu
verändern: Die Groß- und Kleinschreibung sollte völlig
neu geordnet werden, d. h. Großbuchstaben sollten nur noch am
Satzanfang zu finden sein, die Kommaregel-Vorschläge ähnelten
den heute gültigen und auch damals schon drängte man auf eine
vermehrte Getrenntschreibung. Diese Reformvorschläge scheiterten
jedoch an den Kultusministern; die Regeln von 1901 wurden daraufhin als
verbindlich festgeschrieben und weiter verwendet.
Die
Anfänge der Reform von 1998 liegen bereits in den 70er-Jahren des
vergangen Jahrhunderts. Konkret wurde es 1980: seit dieser Zeit wurde
an der Reform von Arbeitskreisen aus der BRD, DDR, Schweiz und
Österreich gefeilt. Nach zahlreichen Überarbeitungen, in
denen vor allem zu radikale Schreibweisen wieder fallengelassen wurden,
stand 1994 der wesentliche Entwurf fest, der allerdings zu
späterem Zeitpunkt abermals angepasst wurde.
Eindrücke
Mir
kam es vor, als hätten viele Menschen überreagiert. Als
ein paar Monate vor der konkreten Einführung die Medien
berichteten und jede Menge Beispiele veröffentlichten, schwappte
eine Welle des Unmuts durchs Land: festgemacht wurde die Empörung
vor allem am Doppel-S; es schien, als würde die Entrüstung
darüber, dass man offenbar das Eszett abschaffen wollte, die
übrigen Korrekturen völlig ins Dunkel stellen. Da war dann
pauschalisierend die Rede von „Dummdeutsch“ und
ähnlichen
Begriffen (offenbar nicht bedenkend, dass eine Vereinfachung der
Schrift nicht gleichzusetzen ist mit der Vereinfachung der Sprache),
und als dann auch noch durchsickerte, dass es Schreibweisen wie
„Ketschup“ oder „klein schreiben“ geben
würde, war das Chaos
perfekt. Dabei gingen die meiner Meinung sinnvollen Änderungen
fast unter. Es wirkte stellenweise, als ob sich die Diskussion um die
Rechtschreibreform tatsächlich zu einem Kampf ums
„ß“
zuspitzen würde – die missverstandenste Reform aller Zeiten.
Interessanterweise schienen gerade diejenigen, von denen man annahm,
sie verstünden viel von Sprache, am lautesten auf unsachliche und
polemische Weise gegen die Reform zu wettern. Bloß kein
Überdenken des Alterhergebrachten, man müsste sich ja
womöglich an etwas Neues gewöhnen.
Dabei
schienen sie zu vergessen, dass man ihnen nichts „diktieren“ wollte.
Die neuen Rechtschreibregeln galten ersteinmal nur für Schulen und
Behörden, und selbst die Übergangsfrist – und somit ein
erlaubtes Nebeneinander beider Schreibformen –
lief noch bis
2006, obwohl diese wohl eher als marginal zu betrachten ist: alle
Schüler lernen heute nach den neuen Regeln, und ich habe schon
lange keine amtlichen Schreiben mehr gesehen, die noch in alter
Rechtschreibung abgefasst sind. Schüler, Lehrer und Beamte kommen
„berufsbedingt“ um die neue Schreibweise nicht herum, aber
allen
anderen könnte es letztendlich egal sein, ob und wie sie es mit
der Rechtschreibung halten: die alten Regeln werden auch nach 2005
nicht „falsch“, sie sind dann eben nach amtlichem
Verständnis nur
nicht mehr aktuell. Niemand wird gezwungen, sich nach den neuen Regeln
zu richten, und eingesperrt wurde auch noch keiner, weil er partout am
„daß“ festhielt. Viele Literaten werden auch
weiterhin ihre
Bücher in alter Schreibweise verlegen lassen, und davon, dass
Goethe und Schiller nun in neuer Rechtschreibung erscheinen, habe ich
auch noch nichts gehört – lesen kann man sie trotzdem immer noch.
Selbst die Tageszeitung kann man sich frei nach diesem Kriterium
aussuchen, je nachdem, welchen Stil man bevorzugt. Unterwirft man sich
hingegen den neuen Regeln, wird man erstaunt sein, wie wenig sich im
Grunde verändert hat. Blättert man ein aktuelles
Wörterbuch einmal wahllos durch, springen die oft roten Markierung
für neue Schreibweisen zwar ins Auge, bilden im Verhältnis
zum Gesamtvokabular aber eine verschwindend geringe Masse. Das
„ß“ ist keineswegs verschwunden und auch mit den
liberalisierten
Kommaregeln findet man seinen Frieden. Insgesamt gesehen handelt es
sich bei der Rechtschreibreform von 1998 wie auch schon 1901 um einen
sehr behutsam durchgeführten Wechsel, der allzu radikale
Änderungswünsche außen vor ließ und trotz
ehrgeizigen Zielen, nämlich einer Vereinfachung und
größerer Systematisierung der deutschen Schriftsprache, die
Balance zwischen Neuem und Altbewährtem wahrte und so eine
schriftliche Kontinuität ermöglichte. Gerade auch aus diesem
Grunde haben sich aus der Masse der Bevölkerung diverse Meinungen
gebildet, die ihren Idealen in Sachen Rechtschreibung weiterhin treu
sind:
Jeder, wie er will ...
Die
jüngste Rechtschreibreform hat in der Folgezeit nach meinen
Beobachtungen vier Typen von Rechtschreibenden hervorgebracht, die,
natürlich unterteilt in diverse Splittergruppierungen, ihre ganz
eigenen Vorstellungen davon haben, wie die verbindliche und einzig
wahre Schriftsprache auszusehen haben sollte:
Typ 1: Der Konservative Typ
Nr. 1, nennen wir ihn einmal den „Konservativen“, hat sich
über
die Jahre an liebgewonnene Schreibweisen und Ausdrucksformen
gewöhnt, fühlt sich in dem verständlicherweise in
allerlei nicht-tagesaktuellen Schriftwerken nach wie vor anzutreffenden
altbewährten Stil zuhause, beherrscht alle Sonderformen und
Ausnahmeregelungen (alt) im Schlaf und findet einfach, dass das dass
als daß statt dass schöner aussieht. Dieser Typ des
Schreibenden wird auch zukünftig Phantasie mit ph bevorzugen. Er
liest morgens die F.A.Z. und abends ein gutes Buch von Günter
Grass (ups, ein Doppel-S). Den Konservativen nachgeordnet existiert die
Splittergruppe der Ultra-Konservativen, die beharrlich Wörter wie
„Schlüßel“ oder „müßen“
zum Besten geben, und
auch nach erfolgter Belehrung von Gleichgesinnten nicht einsehen
wollen, dass man bereits im vergangenen Jahrhundert
ausschließlich „müssen“ und
„Schlüssel“ schrieb.
Typ 2: Der Modernisierer Der
zweite Typ ist der „Modernisierer“. Er erweckte 1998 den
Anschein, er
habe auf die „plötzlich hereingebrochene“ (O-Ton
mancher „Konservativen“) Reform geradezu langersehnt
gewartet und schmiss in
blinder Euphorie das Eszett und die Kommata über Bord, um fortan
auch konsequent auf „Zusammen Schreibung“ beliebter Worte
zu
verzichten, denn „das Schriftbild habe sich gefälligst dem
gesprochenen Wort anzugleichen und nicht umgekehrt“ (O-Ton
mancher „Modernisierer“). Auch hier existiert eine Untergruppe von
'Hardlinern', die sich noch konsequenter für eine Wandlung der
deutschen Schriftsprache einsetzen und z. B. weiterhin kategorisch
fordern, die Groß- und Kleinschreibung gleich völlig
über den Haufen zu werfen, da „die deutsche Sprache sowieso die
einzige wäre, die Adjektive groß schreibt“. Einem meiner
ehemaligen Lehrer unterstelle ich einfach mal, dass er sich von diesem
Gedanken nicht wirklich vereinnahmen ließ, sondern durch diese
Forderung lediglich Sympathien bei meinen Mitschülern wecken
wollte.
Typ 3: Der Anarchist Typ Nr. 3 ist als „Anarchist“ zu kennzeichnen. Er schert sich ohnehin nicht um
(Rechtschreib-)Regeln, da er insgesamt in Frage stellt, weshalb man
sich mühsam um sein Schriftbild Gedanken machen sollte, wenn man
doch fast genauso gut verstanden wird, wenn man einfach seine
gesprochenen Worte 1:1 in Buchstaben umsetzt (Optimisten sprechen von
einer individualisierten Form der Lautschrift). [außerdem kann er
nicht verstehen, warum in den offiziellen Katalog immer noch nicht die
politisch korrekte SchreibweisInnen für GeschlechtlichkeitInnen
aufgenommen wurde]
Typ 4: Der Individualist Schließlich
existiert noch der Typ des „Individualisten“. Dieser hat einen langen
Prozess der schriftlichen Selbstwahrnehmung hinter sich, genießt
nun aber die Vorzüge beider möglicher Schreibstile, schreibt
das „dass“ zwar mit zwei S, möchte auf seine „Phantasie“ aber
nicht verzichten und pickt sich aus beiden Varianten das für ihn
Überzeugendste heraus. Dies hat manchmal einen etwas
inkonsistenten Schreibstil zur Folge, wirkt aber im Gesamtergebnis
verblüffenderweise oftmals überzeugender als das strikte
Einhalten einseitiger orthographischer Regelungen, wie er findet.
„Sag, wie hältst Du's mit der Rechtschreibung ...?“
Persönlich
habe ich von Anfang an versucht, mich auf die neuen Regelungen einzulassen
und „neu“ zu schreiben, denn die meisten Änderungen erschienen mir
sinnvoll und sympathisch. In manchen Punkten bin ich aber auch
weiterhin ein Konservativer, der „seine alte“ Rechtschreibung
verteidigt. Insbesondere bei der Getrennt- und Zusammenschreibung war
ich mit der Reform verschiedener Meinung und auch bei der übrigen Orthographie
tendiere ich eher zur klassischen Schreibweise, wenn es erlaubt ist.
Vieles ist mittlerweile ohnehin freigestellt und in der letztmaligen
Nachkorrektur der Reform durch den Rat für Deutsche
Rechtschreibung Mitte 2006 hat sich interessanterweise nun ein Konsens
herauskristallisiert, den ich für mich selbst von Beginn
an insgeheim befolgt habe. Ich habe jedoch keine Probleme, konequent alt oder neu
zu schreiben, ich fühle mich in beiden Varianten zu Hause. In
persönlicher Korrespondenz nutze ich jedoch überwiegend die
neuen Schreibweisen, kombiniert mit herkömmlicher, strengerer
Kommasetzung und einigen klassischen Wörtern.
An
das
Doppel-S beim „dass“ habe ich mich übrigens am
schnellsten
gewöhnt, und, um ehrlich zu sein, war dies auch die Änderung
die mir am besten gefallen hat: doppeltes S nach kurzer Sprechweise und
„ß“ nach langer Sprechweise. Das ergab endlich einmal
Sinn. An
den neuen Kommaregeln kann ich im Grunde auch nichts Schlimmes finden.
Diejenigen, die bisher verschwenderisch mit dem Satzzeichen umgegangen
sind, können das nach dem neuen Regelwerk auch weiterhin tun, und
denjenigen, die sich ohnehin zu den Sparsamen zählen, wird es
dadurch etwas einfacher gemacht, „regelkonform“ zu
schreiben. Gleiches
gilt wohl für die Wörter an sich. Die Reform
„erlaubt“ nun
oft verschiedenartige Schreibweisen; also im Grunde das, was vorher
auch schon alle gemacht haben: Wörter nach ihren eigenen Vorlieben
zu schreiben. Und dass man manchmal „Fantasie“ und
andernorts „Phantasie“ liest, kann wohl so schlimm für
die Integrität
der Sprache nicht sein – mal abgesehen davon, dass
„Phantasie“
irgwendwie schöner aussieht (vielleicht ist die alternative
Schreibweise ja aber auch nur von einem Erfrischungsgetränk
vorbelastet ...). Beim „Photo“ zeichnete sich der Trend
übrigens
schon frühzeitig ab: Viele schrieben „Foto“ schon
jahrzehntelang
vor der Reform mit nur vier Buchstaben.
Wie sehr man sich an die
neue Schreibweise schon gewöhnt hat, fällt mir übrigens
immer wieder auf, wenn ich in Schweizer Publikationen blättere –
unsere Nachbarn waren schon viel früher konsequenter und kommen
tatsächlich ganz ohne Eszett aus. Der vermeintliche
Rechtschreibfehler springt einem deutschen Leser dann sofort ins Auge.
Rechtschreibreform zurücknehmen?
Wenn
man sich zum jetzigen Zeitpunkt einmal umschaut, hat es ganz den
Anschein, als ob die Thematik der Rechtschreibreform in der Versenkung
verschwunden wäre –
ganz so, als ob der Streit darüber, wie
man nach der Einführung des Euro denn nun bitte das Wörtchen
„Cent“ auszusprechen habe („zent“ oder
„ssent“?), die Debatte um
Rechtschreibregeln völlig verdrängt hat. Niemand spricht mehr
davon, man ist zur Tagesordnung übergegangen. Recherchiert man
ein wenig im Netz, findet man noch etliche Seiten von Reformgegnern,
die nun mitunter aber recht verwaist wirken, teilweise schon seit
etlicher Zeit nicht mehr aktualisiert wurden oder denen man die
Resignation direkt ansehen kann. Einige Seiten informieren recht
kompetent und umfassend über Hintergründe und
beschäftigen sich auch speziell mit der Linguistik als solcher,
andere spiegeln nur die Kommentare und Meinungen derer wider, die sich
von der Reform überrannt fühlten.
Erstaunlich
übrigens, dass gerade die offenbar energischsten Gegner der Reform
oft selbst nicht viel von Rechtschreibung zu halten pflegen. Da sieht man
teilweise Wörter, die man falscher nicht hätte schreiben
können. Auch kann man Wortkonstruktionen bewundern, die von der
Kreativität ihrer Verfasser zeugen, die jedoch mit deutscher
Schrift nicht mehr viel gemeinsam haben. Auch treiben es die Verfechter
der alten Regeln mitunter etwas zu weit. Man sieht ihren Texten
förmlich an, dass sie sich bewusst entschieden haben, auf Biegen
und Brechen die alten Schreibweisen in Ehren zu halten – und es sich
dabei etwas zu einfach machen –
was dann lustigerweise nicht immer ganz
klappt: Schreibungen wie „müßen“,
„Schlüßel“ oder „streßig“ gab
es weder nach den alten, noch gibt es sie nach den
neuen Regeln. Es reicht eben nicht, einfach das Doppel-S überall
wieder durch das Eszett zu ersetzen.
Sowieso
ist es unangebracht, Sprache und Schrift als etwas Statisches
anzusehen, was man „bewusst“ steuern könne: Wo das hinführt,
wenn versucht wird, die Sprache nach der Schrift zu formen und nicht
umgekehrt, zeigt am besten die Reform selbst: Unsinniges oder
Missverständliches wird von den Schreibenden einfach nicht
angenommen, alternative Schreibweisen setzen sich durch oder es
entstehen neue Begriffe. Sprache selbst hat nun einmal weniger logische
Elemente, als manche sich wünschen würden, sie folgt keinem
starren Plan, sondern entwickelt sich fließend weiter.
Trotz
aller kleinen oder größeren
Unstimmigkeiten ist die vage Hoffnung oder gar die strikte Forderung,
die Reform in Teilen oder als Ganzes zurückzunehmen, wohl
längst als illusorisch zu bezeichnen. Was Argumente vielleicht
noch geschafft hätten, wäre demnächst von der
„normativen Kraft des Faktischen“ überrollt worden. Vor
allem keinem
Fünftklässler würde man nun noch ernsthaft
verständlich machen können, weshalb er jetzt wieder
umzulernen habe.
Argumente
für die Reform gab es wenige, dafür schienen sie einleuchtend
zu sein: Vereinfachung des Schreibens, Anpassung der Schrift an das
Gesprochene, Entrümpelung überholter Regeln und
Modernisierung der inzwischen doch schon in die Jahre gekommenen
Schreibweisen (pikanterweise war z. B. das Hauptziel der Reform von 1901
die Vereinheitlichung der Schriftsprache; dies stand hier wohl weniger
im Mittelpunkt, man siehe nur die vielen Doppelschreibungen und
Ausnahmeregelungen).
Die
Argumente der Reformgegener erschienen dafür umso schwerwiegender:
Zerpflückung des einheitlichen Schriftbildes, Aufgabe von
bewährten Schreibweisen, Verkomplizierung statt Vereinfachung,
Verschiebung von Wortbedeutungen, insgesamt dadurch kein flüssiges
Lesen mehr.
Mit vielem haben
die Reformgegner Recht behalten. Oft stolpert man beim Lesen über
eigenartige Satzkonstruktionen, bei denen man erst einmal
überlegen muss, wie es der Autor denn gemeint haben könnte.
Wenn ich mich richtig erinnere, passierte das so aber auch schon vor
der Rechtschreibreform. Die deutsche Sprache ist nun einmal bekannt
für ihre reichhaltigen Möglichkeiten der Wortwahl –
Doppeldeutigkeiten eingeschlossen; eine Bedeutung ergibt sich in den
meisten Fällen nur aus dem Kontext. Bei manchen Wörtern denkt
man sicherlich „das hätte nicht sein müssen“, aber das ist
wohl nur eine Gewöhnungsfrage und die Generationen, die mit der
neuen Schrift aufwachsen, sehen dies vermutlich ganz anders. Und eines
der Hauptargumente der Reformgegner, dass man nun überall
praktisch zwei Schreibweisen beherrschen müsse, ist eigentlich
auch nicht nachvollziehbar. Dass ein Lesender gleich zum Analphabeten
wird, wenn er mit einer variierenden Schreibweise konfontiert wird, ist
wohl etwas zu hoch gegriffen. Dann dürfte man ja auch nicht mehr
die alten Klassiker lesen ... und das Argument des uneinheitlichen
Schriftbildes lässt sich sowieso nicht aufrechterhalten, denn
gerade Literaten haben sich in der Vergangenheit immer die Freiheit
genommen, etwas eigenwilliger zu schreiben als der Rest der
Bevölkerung –
nur firmiert das dann eben nicht unter dem Begriff
„Rechtschreibfehler“, sondern unter
„künstlerischer Freiheit“.
Eines
der Hauptargumente der Befürworter, nämlich dass die deutsche
Sprache nun leichter zu lernen und zu schreiben sei, hat sich offenbar
jedenfalls nicht erfüllt. Es sieht eher fast so aus, als ob nun
nach zwei Regelwerken falsch geschrieben wird: Nach Berichten in der
Berliner Zeitung und der Rheinischen Post vom 1.8.2003 hat sich der
Fehlerquotient an deutschen Schulen weder verbessert noch
verschlechtert. Nur bei den Kommaregeln würden weniger Fehler
gemacht, was wohl mit der Liberalisierung zusammenhängt.
Aufgezeigte Statistiken zu den Artikeln waren auch interessant: So
störe sich nur eine Minderheit von 33 % an den neuen Regeln, 29 %
wende sie überhaupt nicht an; jedoch schriebe auch nur eine
Minderheit von 21 % bewusst nach der neuen Rechtschreibung.
Schlussgedanken Auf
lange Sicht gesehen scheinen die Veränderungen in unserer
Schriftsprache tatsächlich marginal zu sein. Unter diesem Aspekt
hätte man sich die ganze Reform sicher sparen können – die
Turbulenzen, die sie verursacht hat, wiegen die paar Angleichungen und
Modernisierungen wohl nicht auf. Andererseits könnten wir dann
eigentlich „tun“ auch immer noch mit „h“ schreiben.
Die Reform
steht für eine behutsame Liberalisierung der deutschen
Schriftsprache, hin zu mehr Eigenständigkeit (explizit z. B. in der
Zeichensetzung). Es hätte tatsächlich schlimmer kommen
können, wenn etwa wirklich auf Groß- und Kleinschreibung
verzichtet worden wäre oder man die Eindeutschung von
Fremdwörtern konsequenter verfolgt hätte.
So aber ist
das meiste nun eher Gewöhnungssache und die Konsequenzen für
die Sprache, die bei Einführung der Reform von den Kritikern
gesehen wurden, sind letzlich nicht eingetreten. Deutsch ist eine sehr
lebendige Sprache und eine lebendige Sprache entwickelt sich weiter.
Dies nicht auch im Schriftbild auszudrücken wäre
inkonsequent. Sicherlich bringt jede Reform auch ein gewisses Maß
an Fehlern mit – dies lässt sich bei derartigen Projekten wohl
nicht vermeiden, jedoch werden sich Begriffe, die inhaltlich zu
widersinnig sind, sowieso langfristig nicht durchsetzen, ebenso
Interpunktion und der Schreibstil ingesamt. Dazu sind Sprache und
Schreiben einfach zu individuell. Und schließlich wird sich die
Schrift wieder einmal am gesprochenen Wort orientieren, wenn es
irgendwann zu einer nächsten Reform kommt. Gewissermaßen
bringt die Sprache ihre Qualitätskontrolle für ihr
Schriftbild so gleich mit.
Und trotz aller Vor- und Nachteile
gibt es bei dieser umstrittenen Reform noch einen ganz praktischen
Nebeneffekt, der bislang noch viel zu wenig gewürdigt wurde: das
Fragezeichen auf Ihrer Tastatur hält nun länger!
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